- Birte Gutmayer
- 31. MĂ€rz 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Apr. 2024
Eine lÀcherliche, verstörende oder ermutigende Aussage? Ich gehe ihr auf den Grund.

Voll in der Kletter-Bubble
Nicht zum ersten Mal hörte ich vor Kurzem den Satz: â8a kann doch jeder!â. Diese Aussage zeigt eindeutig, in welcher Kletter-Bubble manche Profis unterwegs sind. Sie trainieren mit gleichstarken am Moonboard, ziehen dort ein Benchmark nach dem nĂ€chsten, bouldern am Kilterboard auf 60 Grad, challengen sich an 6mm-Leisten und ziehen den 1-5-9er am Campusboard. Sie klettern an Felsen, an denen der 9er die beste AufwĂ€rmroute darstellt und treffen abends Kletterer, die sich ĂŒber Cruxsequenzen an Monos in DĂ€chern oder 2-Meter-Dynos in ihren Projekten unterhalten. Je tiefer sie in die Welt enorm starker Kletterer eintauchen, desto weniger wundere ich mich, dass sie mit der Zeit den Eindruck bekommen, dass 8a doch jeder klettern kann.Â
9a - Das neue Normal?
Ganz vom Glauben bin ich selbst abgekommen, als jemand standfest behauptete, dass jeder in der Lage wĂ€re FB 8a zu bouldern. Unnötig zu erwĂ€hnen, dass er selbst am liebsten französische 9er kletterte. Das Niveau eines FB 8a-Boulders ist in etwa mit einer 9a-Route zu vergleichen, von der wohl nicht nur ich weit entfernt bin. Obwohl man auf der Kletterer-Website 8a.nu durchaus den Eindruck bekommen könnte, dass 9a das neue âNormalâ darstellt und ich mich selbst oft an Orten aufhalte, an denen das Kletterniveau im Schnitt vielleicht 8a ist, kenne ich immer noch mehr Personen, die sich ausgiebiger ĂŒber eine 7a freuen wĂŒrden, als andere ĂŒber eine 8a.
Der Gamechanger
Wenn 9a das neue Normal wĂ€re, was mache ich dann falsch? Immerhin habe ich mit 12 Jahren angefangen regelmĂ€Ăig zu klettern.Â
Ist mein Wille nicht stark genug? Muss ich lernen mehr Gas zu geben, noch mehr an mich zu glauben, öfter 100% zu geben? Sollte ich einmal mehr einsteigen, wĂ€hrend sich alle anderen schon in den Feierabend verabschiedet haben und mich mit HarzerkĂ€se als Abendessen zufrieden geben? Eigentlich schĂ€tze ich meinen Willen recht hoch ein, trainiere sehr regelmĂ€Ăig und nutze jede Gelegenheit an den Fels zu fahren, um möglichst schwere Routen zu klettern.Â
Oder liegt es gar nicht an meinem Wille, sondern an meinem Talent?! WĂ€re ich doch nur gelenkiger, etwas beweglicher oder schnellkrĂ€ftiger! Aber selbst wenn ich davon ausgehe ânormal-talentiertâ zu sein, bleibt die Frage offen, warum ich von der 9a trĂ€ume anstatt sie zu klettern.
Bleibt noch das Training! Vielleicht kann ich das noch optimieren! Muss ich mein Training nur anders gestalten? Muss ich öfter, spezifischer, variationsreicher trainieren, damit mir die 9a irgendwann gelingt? Doch auch nach 100 Youtube-Videos und 10 KletterbĂŒchern bin ich nicht viel schlauer. Sicherlich ist hier und dort noch Optimierungspotenzial, aber die Hoffnung auf den absoluten Gamechanger gab ich schon vor einiger Zeit auf.Â
Der Durchschnittsmensch
Wenn nun mein Ehrgeiz, Talent und Training mindestens durchschnittlich sind, zwar fĂŒr die ein oder andere 8c aber lange nicht fĂŒr einen 8a Boulder oder eine 9a-Route reichen, welchen Grad kann dann jeder klettern oder bouldern? Das ist eine wirklich schwere Frage, denn das Wort "jeder" schlieĂt schlieĂlich eine Menge Leute ein. Wenn man es genau nimmt, kann noch nicht einmal jeder einen dreier klettern, zum Beispiel auf Grund von körperlichen BeeintrĂ€chtigungen. Also lautet die Frage wohl eher: Welchen Grad kann der Durchschnittsmensch klettern? Aber wie definiere ich den Durchschnitt? Ist er mĂ€nnlich oder weiblich? Wie viel und welchen Sport hat er in seinem Leben gemacht? In welchem Alter hat er angefangen zu klettern? Hat der Durchschnittsmensch Kinder? War sie schon schwanger? Wie viele Stunden arbeitet er pro Woche? Wie viele Tage verbringt er oder sie am Fels?
Aber selbst wenn man einige Annahmen trifft wie: Kinderlose, 28-jĂ€hrige, weibliche Kletterin, halbtags arbeitend, seit 10 Jahren 2-3 Mal wöchentlich kletternd; so bleibt es eine unbeantwortbare Frage, welchen Grad sie theoretisch klettern können sollte.Â
Die EinsichtÂ
Die Liste der einzubeziehenden Faktoren ist nĂ€mlich so lang, dass eine solche Aussage schier unmöglich zu treffen ist. FrĂŒher habe ich mir die Frage, welchen Grad jeder klettern kann, gerne selbst gestellt und im Freundeskreis diskutiert. Doch mit jedem Jahr an Lebenserfahrung, fiel mir die Antwort schwerer, bis ich zu dem Schluss kam, dass es völlig irrelevant ist, was jeder kann, sondern viel bedeutender was ich kann. Niemand sonst weiĂ besser, welche Voraussetzungen ich mitbringe, kann besser einschĂ€tzen, was ich leisten kann und will, welche PrioritĂ€ten ich im Leben setze und wie hart ich an mir arbeiten möchte. So individuell die leistungsbestimmenden Faktoren der DNA sein können, so individuell jeder Lebenslauf sein kann, so individuell ist der erreichbare Klettergrad. Wer das einsieht lernt die Leistung jedes motivierten Kletterers zu schĂ€tzen. Und das ist auch der Grund, warum ich so viele Freude daran habe Klettercoachings zu geben: Menschen dabei zu helfen ĂŒber sich hinauszuwachsen und ihre individuellen Ziele zu erreichen egal auf welchem Niveau. Denn jeder bringt andere Voraussetzungen mit und jeder  setzt andere PrioritĂ€ten im Leben und deshalb ist es vollkommen okay, wenn nicht jeder 7a, 8a oder 9a klettert.
Comments